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Perrins Experimente zur Brownschen Bewegung

Johannes Martin Uhlich, A.N.

Hintergrund

Bei der Brownschen Bewegung, welche erstmals im Jahr 1827 vom schottischen Botaniker Robert Brown mit Hilfe eines Mikroskops beobachtet wurde, handelt es sich um eine ungeordnete und persistierende Bewegung von gelösten Partikeln, die nicht durch lebende Organismen verursacht wird. Da die Brownsche Bewegung mit zunehmender Partikelgröße abnimmt, lässt sie sich auf der makroskopischen Ebene, d.h. mit bloßem Auge nicht mehr wahrnehmen. Browns Entdeckung fand zunächst wenig Beachtung, spielte dann aber eine entscheidende Rolle bei der Bestätigung der Atomtheorie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Letzteres beruht auf der besonderen Eignung der Brownschen Bewegung als Brückenphänomen, welches zwischen der empirischen Anschauung und Bereich der Atome, welcher der Erfahrung verschlossenen ist, vermitteln kann.

Beim Atomismus der griechischen Antike handelt es sich um naturphilosophische und metaphysische Spekulationen, die keinen direkten Erfahrungsbezug haben. Mit dem Aufkommen des mechanistischen Weltbildes in der Neuzeit und der Etablierung der Naturwissenschaft als eigenständige, von der Philosophie unabhängige Disziplin entwickelt sich eine zunehmend realistische Interpretation der Atome. Dennoch bleibt die Kluft zwischen dem spekulativen Bereich der Atome und dem Bereich der menschlichen Erfahrung lange bestehen. Denn die menschlichen Anschauungsformen sind als Bildungen der menschlichen Evolution und Geschichte angepasst an den Bereich des Mittleren, den menschlichen Mesokosmos. Die Brownsche Bewegung nimmt hier als Phänomen der mikroskopischen Sphäre eine Zwischenstellung ein. Das Besondere an ihr ist, dass ihre Ursache im Bereich der Atome liegt, während ihre Wirkung sichtbar ist unter dem Mikroskop, also im empirisch zugänglichen Bereich. Aufgrund dieser Eigenschaft ist es schließlich möglich, vom experimentellen Beweis der Theorie Einsteins zur Brownschen Bewegung durch Perrin auf die Existenz der Atome zu schließen.

Versuchsaufbau

Da die Gruppe sich darauf einigte, sich mit den Experimenten Perrins zur Brownschen Bewegung zu befassen und nach den Bedingungen zu fragen, welche zum Gelingen des Nachweises der molekular-kinetische Verursachung beitrugen, ist es sinnvoll, zunächst den Versuchsaufbau zu betrachten. Die Beschreibung des Experiments findet sich im 1910 erstmals in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die Brown´sche Bewegung und die wahre Existenz der Moleküle erschienenen Aufsatz, welcher die primäre Quelle der Projektgruppe bildet. Einen großen Anteil an Perrins Erfolg hatte zweifellos auch dessen akribische Vorbereitung, insbesondere die Präparation der später verwendeten Proben. Durch sorgfältiges Zentrifugieren konnte die Abweichung der Durchmesser der einzelnen Partikel minimiert werden, was letztendlich der Genauigkeit und Aussagekraft der Ergebnisse zugute kam. Entscheidender für das Verständnis des Problems der Beobachtbarkeit ist jedoch die Versuchsanordnung. Die wesentlichen Elemente sind das Mikroskop, durch das Perrin oder einer seiner Mitarbeiter von oben auf die Probe schauen. Dieses verfügt unter anderem über die Möglichkeit, den Fokus in der Höhe zu verstellen. Das Mikroskop ist auf die Emulsion (Gemisch aus beobachtbaren Partikeln und Lösungsflüssigkeit) gerichtet, die sich in einem geschlossenes Gefäß befindet (siehe Abbildung). Perrin nennt als Höhe des Gefäßes 100 Mikrometer (Perrin 1910, S.32). Die Probe wird von außen beleuchtet durch einen Wasserkasten hindurch, um die Wärmestrahlung zu absorbieren, welche die Ergebnisse hätte verfälschen können.

Anhand dieser Beschreibung kann nun die Perspektive Perrins nachvollzogen werden. Der Blick durch das Mikroskop liefert ihm eine zweidimensionale horizontale Projektion des eigentlich dreidimensionalen Gefäßes. Da aufgrund der technischen Eigenschaften des Mikroskops jedoch immer nur ein gewisser vertikaler Bereich von wenigen Mikrometern abgedeckt werden kann, ist in der horizontalen Projektion nicht die gesamte Probe abgebildet. Wenn nun Perrin versucht, die Partikel, welche der Brownschen Bewegung unterliegen, unter dem Mikroskop zu verfolgen, ist er mit dem Problem konfrontiert, dass diese immer wieder Verschwinden. Mit Verschwinden ist gemeint, dass die Partikel in der zweidimensionalen Darstellung zunächst Verblassen und sich schließlich vollständig auflösen. Die Teilchen existieren weiterhin, befinden sich jedoch in einer vom Mikroskop nicht erfassten Schicht. Das Verschwinden der Teilchen, die der Brownschen Bewegung innewohnende Tendenz, sich der Beobachtung zu entziehen, wird damit zur Herausforderung für Perrin in Hinblick auf sein Vorhaben, den experimentellen Nachweis für die molekular-kinetische Verursachung zu liefern.

Fragestellung

Die Gruppe hatte zunächst entschieden, sich mit Perrins Arbeiten zur Brownschen Bewegung zu befassen. Perrins Experimente stellen nicht nur einen wichtigen Meilenstein in der Erforschung der Brownschen Bewegung dar, sondern sind aufgrund ihres maßgeblichen Beitrags zum Beweis der Atomtheorie darüber hinaus von großer wissenschaftshistorischer Bedeutung. Da für Perrin die Beobachtung und Beobachtbarkeit der Brownschen Bewegung eine zentrale Rolle einnimmt, lag es nahe, eine damit zusammenhängende Forschungsfrage zu entwickeln. Konkretisieren ließ sich die Fragestellung anhand einer Darstelllung, die die Positionsveränderung dreier Teilchen zeigt, welche von Perrin und seinem Mitarbeiter Dabrowski durch das Mikroskop beobachten konnte. Die Punkte stehen für die jeweilige Position eines Teilchens, welche im Abstand von 30 Sekunden festgehalten wurde. Bei der längsten Figur handelt es sich um 50 Beobachtungen in Folge, was einer Beobachtungszeit von 25 Minuten entspricht (Perrin 1910, S.60). Vor dem Hintergrund des ständigen Verschwindens der beobachteten Partikel erscheint es nicht selbstverständlich, dass ein Teilchen über diesen relativ langen Zeitraum beobachtet werden kann. Die Gruppe einigte sich darauf, der Frage nachzugehen, welche Faktoren für die lange Beobachtungszeit verantwortlich sind. Inwiefern nimmt Perrin aktiv Einfluss auf diese Faktoren, um die Beobachtungszeit zu verlängern?

Da sich schon im vergangenen Semester eine Projektgruppe mit dem Zustandekommen der langen Beobachtungszeiträume befasst hatte, war es notwendig, deren Überlegungen und Ergebnisse beim weiteren Vorgehen zu berücksichtigen. Die besagte Gruppe wollte mithilfe einer möglichst realistischen Simulation eines einzelnen in Flüssigkeit gelösten Brownschen Teilchens, das durch die es umgebenden Moleküle (z.B. Wasser) in Bewegung versetzt wird, Aufschluss über die Beobachtungsdauer zu gewinnen. Bei der Simulation der elastischen Stöße sollte die Gravitation und die damit zusammenhängende Höhenformel der vertikalen Verteilung berücksichtigt werden. Eine wichtige Erkenntnis dieser Gruppe war, dass die zur Verfügung stehenden technischen Ressourcen nicht ausreichten, eine halbwegs aussagekräftige physikalische Simulation durchzuführen. Die mit handelsüblichen Rechnern durchgeführten Simulationen erlaubten lediglich die Berechnung weniger hundert Teilchen, die kaum verwertbare Rückschlüsse zur Beobachtungsdauer zuließen. Die Schlussfolgerung für das hier beschriebene Vorhaben ist, dass ein Ansatz gewählt werden sollte, der ohne komplexe physikalische Simulation auskommt, insbesondere ohne die Berechnung der Moleküle der Flüssigkeit, d.h. ohne Simulation eines Teilchenbades auskommen sollte.

Hypothesen

Unter den in Betracht gezogenen Erklärungsansätzen hat die Gruppe schließlich drei in Frage kommende und mit den zur Verfügung stehenden Mitteln voraussichtlich überprüfbare Kandidaten ausgewählt. Eine naheliegende Erklärung für die lange Beobachtungsdauer wäre die direkte Beeinflussung der für die Brownschen Bewegung relevanten Parameter durch Perrin. Neben der direkten kommt auch eine indirekte Beeinflussung der Beobachtungsdauer in Betracht. Gemeint ist zum einen das Ausnutzen der experimentellen Rahmenbedingung und zum anderen die Veränderung von Parametern, welche keinen unmittelbaren Effekt auf die Intensität der Brownschen Bewegung haben. Schließlich soll überprüft werden, inwieweit statistische Effekte für die Beobachtungsdauer verantwortlich gemacht werden können. Von der Gruppe verworfen wurde u.a. die Vermutung, dass die lange Beobachtungsdauer auf eine intrinsische Begrenzung der Brownschen Bewegung zurückzuführen ist. Denn das beobachtete „Zittern“ des Brownschen Partikels, auf dem diese Vermutung beruht, verschwindet mit zunehmender Vergrößerung unter dem Mikroskop und verwandelt sich in eine Abfolge chaotischer Bewegungen unterschiedlichster Länge.

Direkte Beeinflussung

Ein direkte Beeinflussung würde dann vorliegen, wenn sich herausstellt, dass Perrin diejenigen Größen verändert, die sich unmittelbar auf die Intensität der Brownschen Bewegung auswirken. Um welche Größen es sich dabei handelt, lässt sich der Formel Einsteins entnehmen:

Das große Delta auf der linken Seite der Gleichung bezeichnet die erwartbare Distanz vom Ursprungspunkt, welche das Partikel aufgrund von Brownscher Bewegung in der Zeit τ (Tau) überwindet. Gemeint ist hier nicht die tatsächlich zurückgelegte Wegstrecke, von der Einstein in seiner Ausarbeitung explizit abstrahiert. Bei den Parametern R (Gaskonstante), N (Avogadro-Konstante) und π (Pi) handelt es sich um unveränderliche Größen, auf die Perrin kein Einfluss nehmen kann. Als mögliche Kandidaten einer Manipulation kommen in Betracht T (Temperatur) , ϱ (Größe des Partikels) und η (Viskosität). Auffällig ist, dass zwar die Größe, nicht jedoch die Masse eine Rolle spielt. Da das Tau unter einer Wurzel steht, lässt sich an der Formel zudem ablesen, dass die Distanz nicht linear mit der Zeit anwächst. Die Aufgabe der Gruppe besteht nun darin, mithilfe des Modells und des darauf beruhenden Programmcodes zu prüfen, wie sich die Veränderung der Parameter Temperatur, Viskosität und Partikelgröße auf die Brownsche Bewegung auswirkt und inwieweit geschlussfolgert werden kann, dass Perrin hier tatsächlich eingreift, um die Beobachtungszeit durch Verringerung der Bewegungsintensität zu verlängern.

Indirekte Beeinflussung

Von den übrigen Parametern und Randbedingungen wurden von der Gruppe insbesondere diejenigen in Betracht gezogen, welche in der Vertikalen angesiedelt sind. Insgesamt scheint es sich beim von Perrin beschriebenen Verschwinden der Partikel primär um ein Phänomen der Vertikalen, d.h. der Höhe zu handeln. Es finden sich bei ihm auch kaum Angaben zu horizontalen Dimensionen. Die Gruppe hat daraus geschlossen, dass vermutlich das horizontale Verschwinden keine große Rolle für die Beobachtungsdauer spielt und daher vorerst vernachlässigt werden kann. Ob diese Annahme gerechtfertigt ist, ließ sich jedoch nicht endgültig klären.

Bei den vertikalen Phänomenen, die einen möglichen Einfluss auf die Beobachtungsdauer haben, handelt es sich erstens um die ungleichmäßige Verteilung der Partikel in der Flüssigkeit, welche mit der sogenannten Höhenformel ausgedrückt wird. Der Ansatz der vertikalen Verteilung wurde jedoch von der Gruppe nicht weiter verfolgt, da hier mehrere Hindernisse auftraten. Zunächst ist zu bedenken, dass die Höhenformel ein statistisches Gleichgewicht beschreibt, kein statisches. Das bedeutet, dass eine Anhäufung von Partikeln in Bodennähe nicht zwangsläufig zu längeren Beobachtungszeiten führt. Zudem haben die Arbeiten der Vorgängergruppe gezeigt, dass die Simulation der Höhenformel im Rahmen des Projekts nicht realisierbar ist.

Ähnlich verhält es sich mit dem „scheinbaren Gewicht“. Dabei handelt es sich um die relative Dichte, für welche Perrin den Ausdruck Δ - δ (großes Delta minus kleines Delta) verwendet. Wenn die Dichte des Partikels (großes Delta) deutlich über derjenigen der Flüssigkeit (kleines Delta) liegt, verfügt das Partikel über ein höheres „scheinbares Gewicht“ und sinkt dementsprechend schneller zu Boden. Während bei gleicher Dichte kein Absinken zu beobachten ist, führt ein negatives „scheinbares Gewicht“ zum Aufsteigen des Partikels. Die Gruppe hat sich mit der Frage befasst, ob unterschiedliche „scheinbare Gewichte“ sich auf die Beobachtungszeit auswirkt. Denn das von Perrin zunächst verwendeten Gummigutti hat mit einer relativen Dichte von 1,207 ein deutlich höheres „scheinbares Gewicht“ als das in späteren Versuchsreihen verwendete Mastix mit 1,063. Hier ist denkbar, dass sich die Mastixteilchen länger beobachten lassen, da sie aufgrund der geringeren Dichte, die näher an derjenigen von Wasser liegt, weniger von gravitionsbedingten Effekten betroffen sind. Jedoch konnte auch hier keine endgültige Antwort gefunden werden, da mit dem von der Gruppe realisierbaren Modell die Gravitation nicht simuliert werden konnte.

Eine weiterer in der Höhe angesiedelter Faktor ist der Boden des Gefäßes, in dem sich die mikroskopierte Lösung befindet. Da es sich beim Verschwinden um ein primär vertikales Phänomen handelt, ist es naheliegend anzunehmen, dass eine Barriere, die das Verschwinden in einer Richtung unterbindet, Einfluss auf die Beobachtbarkeit der Partikel hat. Grundsätzlich wäre es auch möglich gewesen, die obere Begrenzung des Präparats zu untersuchen. Da jedoch intuitiv eher in Bodennähe eine verlängerte Beobachtungszeit zu erwarten wäre, hat die Gruppe darauf verzichtet. Im Gegensatz zur Höhenformel und dem „scheinbaren Gewicht“ ließen sich mit dem gewählten Ansatz und den zur Verfügung stehenden Mitteln Erkenntnisse über den Einfluss des Bodens auf die Beobachtungsdauer gewinnen.

Schließlich wurde in der Gruppe diskutiert, wie sich die Höhe der Beobachtungsschicht auf die Beobachtungszeit auswirkt. Die Beobachtungsschicht beruht auf der Eigenschaft des Mikroskops, nur einen bestimmten vertikalen Bereich innerhalb des Präparats scharf abbilden zu können, abhängig von den gewählten Einstellung am Mikroskop. Leider bleibt Perrin in Bezug auf die tatsächliche vertikale Ausdehnung der Beobachtungsschicht sehr vage, denn er spricht lediglich von einer Größenordnung im Bereich des Mikron (Perrin 1910, S.33). Zu erwarten wäre sicherlich, dass eine größere Schicht zu längeren Beobachtungszeiten führt. Es soll anhand des Modells untersucht werden, wie sich unterschiedliche Schichtgrößen auf die Beobachtung auswirken.

Statistischer Effekt

Als weitere Möglichkeit wurde von der Gruppe in Betracht gezogen, dass das Zustandekommen langer Bobachtungszeiten möglicherweise maßgeblich von der Menge der beobachteten Teilchen abhängt. Der Beobachtungserfolg wäre dann auch von Geduld und Glück abhängig. Die Angaben Perrins hierzu sind wiederum recht vage. Er deutet die Abnahme der beobachtbaren Teilchen, d.h. das Verschwinden in Abhängigkeit von der Zeit in einem Satz an: „In jeder Serie entspricht dieses Intervall von 30 Sekunden ungefähr 200 Punkten, das Intervall von 60 Sekunden 100 Punkten und so weiter.“ (Perrin 1910, S.59). Hier ist die Vermutung naheliegend, dass die Teilchenanzahl mit der Zeit exponentiell abnimmt. Um den Zusammenhang von Teilchenanzahl und Zeit untersuchen zu können, muss die Veränderbarkeit der Teilchenanzahl sowie die Möglichkeit der statistischen Auswertung im Modell und der Entwicklung des Programmcodes berücksichtigt werden. Hier gilt der Dank der Gruppe einem Mitglied, welches sich hauptsächlich um den statistischen Teil einschließlich der Programmierung gekümmert hat, jedoch vorzeitig aus dem Projekt ausgeschieden ist.

Modell

Die Aufgabe besteht nun also darin, die in Betracht gezogenen Größen dahingehend zu prüfen, ob ihre Veränderung zu einer signifikanten Verlängerung der Beobachtungszeit führen kann. Dazu ist es zunächst erforderlich, den oben beschriebenen Aufbau derjenigen Experimente Perrins, die zu den langen Beobachtungszeiten geführt haben und schließlich die molekular-kinetische Verursachung der Brownschen Bewegung belegen konnten, in ein Modell zu überführen. Dieses soll die wichtigsten und für die Fragestellung relevanten Größen enthalten. Auf der Grundlage dieses Modells soll anschließend ein Programm in der Programmiersprache Python entwickelt werden, dessen Ergebnisse im Erfolgsfall dazu beitragen, Aussagen zur Plausibilität der jeweiligen Parameterveränderung treffen zu können.

Ziel ist es, das Verschwinden der Partikel im Blick durch das Mikroskop nachzuvollziehen, welches Perrin beschäftigte. Obwohl das Verschwinden ein Phänomen der zweidimensionalen Projektion ist, bietet es sich an, nicht den Blick Perrins zu rekonstruieren, sondern das Geschehen aus einer externen dreidimensionalen Perspektive bzw. einer Seitenansicht auf das Gefäß zu betrachten. Denn die Ursache des Verschwindens, die Vertikalbewegung, ist in der Draufsicht verborgen. Die maßgeblichen Größen sind zunächst die Temperatur, die Viskosität und der Durchmesser der Brownschen Partikel. Anhand dieser Angaben lässt sich der theoretisch zu erwartende Abstand mittels der Einsteinschen Formel errechnen. Darüber hinaus sind diejenigen Größen relevant, die für eine mögliche indirekte Beeinflussung eine Rolle spielen. Dabei handelt es sich konkret um die Lage bzw. die Höhe der Beobachtungschicht relativ zum Boden sowie die absolute Höhe bzw. Dicke der Beobachtungsschicht selbst.

Aufgrund der beschränkten technischen Ressourcen kann keine physikalisch realistische Simulation durchgeführt werden. Das bedeutet auch, dass die molekulare Ebene, welche für die Bewegung auf der mikroskopischen Ebene verantwortlich ist, nicht direkt im Modell berücksichtigt werden kann. Als Alternative bietet sich der sogenannte Random Walk an. Hierbei handelt es sich um einen Algorithmus, der geeignet ist, zufällige Bewegungen wie etwa die Brownsche Bewegung oder auch Aktienkurse abzubilden. Da der Algorithmus mittels der Einsteinschen Formel, welche eine genaue Berechnung des erwartbaren Abstands ermöglicht, kalibriert wird, enthält er implizit die maßgeblichen Größen. Dieses Vorgehen ermöglicht eine ausreichend genaue Simulation, die zugleich auf handelsüblicher Hardware realisierbar ist.

Programmcode

Der nächste Schritt besteht nun darin, den Random Walk in Form eines Programms in der Programmiersprache Python zu realisieren. Verwendet wird der Editor Spyder, welcher in der von der Gruppe verwendeten Python-Distribution Anaconda3 enthalten war. Grundlage des Programms sind die für das Modell relevanten Parameter. Die Beobachtungsdauer von 1500 Sekunden orientiert sich an der maximal von Perrin erreichten Zeit von 25 Minuten.

Der Random Walk wurde realisiert durch numpy arrays, die für jede der drei Dimensionen separat die Position jedes berechneten Teilchens zu jedem Zeitpunkt speichert. Die Veränderung wird mit jedem Durchlauf durch eine Zufallsfunktion generiert. Der Abstand der Teilchen vom Ursprung wird durch Berechnung der Raumdiagonale ermittelt. Die Reflexion der Teilchen am Boden ist in der Abbildung schon berücksichtigt.

Um mithilfe der genauen Berechnung des Abstandes den Random Walk justieren zu können, muss Einsteins Formel in den Code integriert werden. Dabei müssen drei Korrekturen vorgenommen werden. Um von Zentimeter auf die im Programm verwendeten Mikrometer zu gelangen, ist ein Umrechnungsfaktor von 10000 erforderlich. Da das Programm in 3 Dimensionen operiert, Einsteins Formel aber nur für eine Dimension gilt, muss der Abstand mit Wurzel von 3 multipliziert werden. Außerdem hat es sich als sinnvoll erwiesen, nicht direkt mit den ermittelten Abständen zu operieren, sondern mit den quadrierten Abständen. Dies gilt sowohl für die mit der Formel berechneten als auch für die mittels des Zufallsalgorithmus generierten Abstände. Durch die Quadrierung wird aus der Wurzelfunktion eine lineare. Dies hat u.a. den Vorteil, dass die Graphen leichter zu interpretieren sind. Als zusätzliches Hilfsmittel zur Interpretation wird die Differenz von berechnetem und simuliertem quadratischen mittleren Abstand gebildet.

Zur Durchführung der manuellen Kalibrierung ist noch eine graphische Ausgabe erforderlich. Es stellte sich heraus, dass die von Einstein übernommen Werte einer Schrittlänge des Random Walks von genau drei entspricht. Einsteins Daten wurden im Programm anstelle der Daten Perrins verwendet, da diese sich als vollständiger und besser nachvollziehbar erwiesen. Anhand der Grafik lässt sich die Übereinstimmung der Graphen der direkten Berechnung und der Simulation überprüfen. Nach der erfolgreichen Implementierung und Kalibrierung des Random Walk ist es möglich, Veränderungen der Parameter zu simulieren. Damit ist die Kernanforderung an das Programm erfüllt. Die Ergebnisse dieser Simulation werden im nun folgenden Abschnitt dargestellt.

Ergebnisse

Direkte Beeinflussung

Von den in der Einsteinschen Formel auftretenden Variablen wurde zunächst die Temperatur untersucht. Der von Einstein verwendete Wert, der für die Kalibrierung verwendet wurde und somit die Referenz bildet, beträgt 290 Kelvin (Einstein 1908, S.238), was knapp 17 Grad Celsius entspricht. Um nun die Auswirkungen der Temperaturänderung zu überprüfen, wird der entsprechende Wert variiert, der im Programm in die Berechnung des Abstands mithilfe der Einsteinschen Formel einfließt. An der relativen Stellung der Graphen lässt sich die Veränderung ablesen. Im Fall der Temperatur und der anderen Variablen der Einsteinschen Formel ist zu beachten, dass der rote, berechnete Graph die Veränderung enthält und der schwarze, simulierte Graph als Referenz dient. Die Abbildung zeigt eine Temperatur von 250 Kelvin, was ca. -23 Grad Celsius entspricht und daher unterhalb des Gefrierpunktes von Wasser liegt. Die Brownsche Bewegung nimmt also wie zu erwarten mit sinkender Temperatur ab. Jedoch ist die erreichte Veränderung, die einer rekalibrierten Schrittlänge von 2,8 entspricht, angesichts der erwartbaren Hindernisse bei der Durchführung des Experiments relativ klein. Bei einer Temperatur von 400 Kelvin, also oberhalb des Siedepunktes von Wasser, liegt die rote Kurve auch nur geringfügig über der Referenz. Daraus kann geschlossen werden, dass die Temperatur sich aufgrund von praktischen Erwägungen nicht gut für die Beeinflussung der Beobachtungsdauer eignet.

Während die Brownsche Bewegung mit steigender Temperatur zunimmt, verhält es sich mit den anderen Variablen der Einsteinschen Formel umgekehrt. Sowohl bei der Viskosität der Lösungsflüssigkeit als auch beim Radius des Partikels führt ein Anstieg zu einer Verringerung der Brownschen Bewegung. Eine Besonderheit, die im Modell nicht berücksichtigt wurde, besteht darin, dass die Viskosität sich bei verschiedenen Temperaturen ändert. Da sich Radius und Viskosität im Modell jedoch identisch verhalten, genügt es, sich mit dem Radius zu befassen. Bei Einstein haben die Teilchen einen Radius von 0,5 Mikrometer. Wird der Radius auf 2 Mikrometer erhöht, führt das zu einer deutlichen Abnahme der Brownschen Bewegung (siehe Abbildung). Bei einer Erhöhung auf 50 Mikrometer, also dem hundertfachen Wert, kommt die Brownsche Bewegung nahezu zum Erliegen. Werden nun diese Verschiebungen durch Rekalibrierung des schwarzen Graphen ausgeglichen, so zeigt sich, dass Schrittlänge des Random Walk und Radius bzw. Viskosität in einem exponentiellen Verhältnis stehen. Die Vervierfachung des Radius von 0,5 auf 2 Mikrometer führt zu einer Halbierung der Schrittlänge von 3 auf 1,5. Der hundertfache Radius entspricht einer um den Faktor 10 geringeren Schrittlänge. Im Gegensatz zur Temperatur handelt es sich beim Radius und der Viskosität um Größen, deren Veränderung zum Zwecke der Verlängerung der Beobachtungszeit durchaus denkbar ist. Ob Perrin diese tatsächlich gezielt beeinflusst, bleibt jedoch noch offen.

Indirekte Beeinflussung

Von den oben diskutierten Parametern der Vertikalen lassen sich zwei mithilfe des Programms untersuchen. Das ist zum einen die Dicke der Beobachtungsschicht, zum anderen die Auswirkung des Bodens in Abhängigkeit von der Ausgangshöhe der Beobachtung. Beide Aspekte werden in der Grafik wiedergegeben.

Es handelt sich bei der oberen Darstellung um eine Seitenansicht der Teilchenbahnen, welche im Programm in Form von numpy arrays gespeichert sind (siehe Abschnitt Programmcode). Die Mitte der Beobachtungsschicht, d.h. der Fokus des Mikroskops, liegt auf der Höhe 20 Mikrometer. Gleichzeitig handelt es sich auch um die Starthöhe der simulierten Teilchen, da beides im Modell nicht unterschieden wird. Die Schicht selbst ist insgesamt 10 Mikrometer hoch bzw. dick. Die Teilchen werden am Boden (grün) zurückgeworfen, unter Berücksichtigung des Radius der Teilchen, weshalb eine Lücke erkennbar ist. Die Grafik zeigt, dass die Teilchen bei einer Starthöhe von 20 Mikrometer deutlich vom Boden beeinflusst werden. Dies hat Auswirkungen auf die gemessenen Abstände, wie der entsprechende Graph in der vorher verwendeten Darstellungsweise zeigt. Bei einer Starthöhe von 80 tritt dieser Effekt hingegen nicht auf. Als interessanter als die Veränderung des Abstandes hat sich in diesem Zusammenhang aber ein anderer Wert erwiesen. Denn in unmittelbarer Bodennähe steigt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Teilchen in der Beobachtungsschicht um den Faktor 2,5 an. Dieser Wert ist nicht unmittelbar an den Grafiken ablesbar, wurde jedoch im Programm gemessen. Der starke Anstieg deutet darauf hin, dass es sich bei der Platzierung der Beobachtungsschicht in Bodennähe auch unabhängig von der vertikalen Verteilung der Teilchen gemäß der Höhenformel um einen gut geeignetes Mittel handelt, um längere Beobachtungszeiten zu erreichen. Dass diese Maßnahme zudem leicht umzusetzen ist, macht es durchaus plausibel, dass Perrin von ihr Gebrauch macht.

Neben der Rolle des Bodens gilt es noch diejenige der Dicke oder Höhe der Beobachtungsschicht zu klären. Diese liegt laut Perrin in der Größenordnung des Mikrometer. Dass sich darüber hinaus dazu keine Angabe findet, stellt durchaus ein Problem bei der Interpretation dar. Denn die Simulation mit verschiedenen Werten hat gezeigt, dass die Schichtdicke einen gravierenden Einfluss auf die Beobachtungsdauer hat. Während bei einer Schichtdicke von 10 (und auch noch bei 20) kein einziges Teilchen über die maximale Zeit von 25 Minuten beobachtbar war, waren es bei eine Dicke von 50 schon 160 von 1000, die durchschnittliche Beobachtungsdauer stieg entsprechend von 38 auf 519 Sekunden. Dieser starke Anstieg ist nachvollziehbar vor dem Hintergrund, dass bei einer Beobachtungsschicht, die größer wäre als das untersuchte Gefäß, das vertikale Verschwinden nicht mehr auftreten würde.

Statistischer Effekt

Abschließend soll geprüft werden, welchen Einfluss die Anzahl der beobachteten Teilchen hat. Insbesondere gilt es zu klären, ob mit einer ausreichend hohen Zahl an Versuchen irgendwann die 25 Minuten erreicht werden. Dazu wurde die hier verwendete Referenzanzahl von 1000 Teilchen mit Durchläufen mit 10000 und 100000 Teilchen verglichen. Da die Grafikausgabe bei den höheren Teilchenzahlen nicht mehr ordnungsgemäß funktionierte, liegen die Daten in tabellarischer Form vor. Die Ergebnisse zeigen eindeutig, dass eine rein statistische Erklärung für eine Beobachtungszeit von 25 Minuten nicht hinreichend ist. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Teilchenanzahl Einfluss auf die Varianz hat. Diese steigt bei wenigen beobachteten Teilchen deutlich an, was sich auf die Qualität der Ergebnisse negativ auswirken kann.

Diskussion

Es konnte gezeigt werden, dass von den Variablen der Einsteinschen Formel die Temperatur sich nicht gut für eine Ausdehnung der Beobachtungszeit eignet, während der Radius der Teilchen und die Viskosität hierfür durchaus infrage kommen. Es lässt sich zeigen, dass Perrin mit letzteren Größen tatsächlich experimentiert. Die Zeilen V. und VI. der Tabelle zeigen Versuchsreihen mit deutlich größeren Teilchen (5,5 Mikrometer) bzw. deutlich erhöhter Viskosität (125, Maßeinheit unklar). Jedoch ist ein direkter Zusammenhang dieser Versuche mit dem Zustandekommen der langen Beobachtungszeit von 25 Minuten nicht belegbar. Die Tabelle zeigt vielmehr, dass Perrin die Versuchsreihen mit einer hohen Anzahl an Versuchen (vierte Spalte), also vermutlich die erfolgversprechendsten, mit regulären Größen durchführt. Auch im Primärtext findet sich kein Hinweis darauf, dass eine gezielte Erhöhung dieser Größen für die lange Beobachtungszeit verantwortlich ist. Damit konnte die Frage nach der Rolle der Teilchengröße und Viskosität nicht endgültig geklärt werden, vieles spricht jedoch dafür, dass diese nicht maßgeblich ist.

Die Simulation der Teilchen in Bodennähe hat ergeben, dass der Boden einen deutlichen Einfluss auf die Beobachtungszeit haben kann. Zudem ist die Verschiebung der Beobachtungsschicht in Richtung Boden im Vergleich zu anderen Maßnahmen äußerst leicht umsetzbar. Im Haupttext finden sich dazu keine genauen Angaben, jedoch erwähnt Perrin an anderer Stelle (Perrin 1913, S. 176), dass er tatsächlich Teilchen in Bodennähe mikroskopiert. Auch wenn der Gruppe kein lückenloser Nachweis gelang, welcher die Zuhilfenahme des Bodens im Falle der Beobachtungszeit von 25 Minuten eindeutig belegt, spricht in diesem Fall vieles dafür, dass Perrin von den Effekten des Bodens Gebrauch macht.

Widerlegt werden konnte die Annahme, dass die erreichten Beobachtungszeiten maßgeblich von der Teilchenzahl abhängen. Selbst mit unrealistisch hohen Teilchenzahlen, die in der Praxis nie erreicht werden können, war es nicht möglich, die Beobachtungsdauer entscheidend zu verlängern. Für die Ausdehnung der Zeit auf 25 Minuten wäre es erforderlich gewesen, auch andere Parameter zu verändern. Daher kommt der Teilchenzahl nur eine Nebenrolle zu.

Nicht ganz klar ist die Rolle des gewählten Materials und damit zusammenhängend die des „scheinbaren Gewichts“. Einerseits spricht Perrin von erheblichen Auswirkungen (Perrin-Dabrowski 1909, S.478) des Wechsels von Gummigutti auf Mastix, andererseits ist eine damit zusammenhängende deutliche Veränderung der Beobachtungszeit nicht belegbar. Es kann vermutet werden, dass die Veränderung sich primär anhand anderer Aspekte wie der gleichmäßigeren Verteilung zeigt. Nimmt man an, dass die in der oben gezeigten Tabelle festgehaltenen Versuchsreihen chronologisch geordnet sind, dann scheint es, dass Perrin nach den Versuchen mit Mastix wieder zum Gummigutti zurückkehrt. Hier besteht noch weiterer Forschungsbedarf.

Die größte Forschungslücke besteht jedoch in Hinblick auf die Schichtdicke. Diese ist von besonderer Bedeutung, da sie für die Beobachtungszeit entscheidend ist. Eine ausreichend große Beobachtungsschicht würde als alleinige Erklärung für eine Beobachtungszeit von 25 Minuten ausreichen. Hier bietet sich der Versuch an, sich dem gesuchten Wert rechnerisch oder wiederum durch Simulation auf der Grundlage der bereits bekannten Parameter anzunähern. Alternativ wäre auch eine Untersuchung des von Perrin verwendeten Mikroskoptyps denkbar.

Offen bleibt weiterhin, aufgrund mangelnder Rechenkapazitäten, die Auswirkung der durch die Höhenformel beschriebenen vertikalen Verteilung. Ein Aspekt, der ebenso ungeklärt ist, ist die Rolle des seitlichen Verschwindens. Hier gäbe es noch Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen.

Quellen

Code

ss2023/project2/brownsche_bewegung_-_bebachtungsdauer.txt · Zuletzt geändert: 2023/10/06 22:10 von anaujok